Presse: 1. Verlegung am 19.02.2014

„Über Nacht waren sie nicht mehr da“

Stolpersteine – In Wolfskehlen und Goddelau wird an ermordete und vertriebene jüdische Bürger erinnert

In Wolfskehlen und Goddelau wurden am Mittwochnachmittag die ersten Stolpersteine zum Gedenken an die Opfer der Nazidiktatur verlegt. Jetzt erinnern Messingtafeln in der Ernst-Ludwig-Straße und der Hospitalstraße an die Familien Lachenbruch, Lichtenstein und Schellenberg.
RIEDSTADT.

Es sieht aus wie ein ganz normales Wohnhaus. Doch das 1907 erbaute Gebäude war früher die Synagoge der jüdischen Bürger aus Wolfskehlen und Goddelau. Vor dem Haus Sackgasse 13 in Wolfskehlen versammelte sich am Mittwochnachmittag eine kleine Menschenmenge, um die ersten Stolpersteinverlegungen in Riedstadt zur Erinnerung an ermordete und vertriebene jüdische Nachbarn in Wolfskehlen und Goddelau zu erleben.

„Es ist eine große Freude für mich, dass sich so viele Bürger aus beiden Stadtteilen hierhin begeben haben“, sagte Walter Ullrich, Vorsitzender des Fördervereins Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau (FJGK) und auch Bürgermeister Werner Amend (parteilos) war „sehr positiv überrascht“.

Die Freude der beiden bezog sich nicht nur auf die große Anteilnahme, sondern auch auf das große Engagement im Vorfeld. Eine Projektgruppe unter Ullrichs Vorsitz hatte die Verlegung vorbereitet, nachdem das Riedstädter Parlament im November 2012 die Unterstützung des Projekts mit großer Mehrheit beschlossen hatte.

Ullrich hatte „auf ein bis zwei Wolfskehler“ und noch einmal so viele Goddelauer für die Projektgruppe gehofft – es wurden dann zwischenzeitlich bis zu 20 Teilnehmer, die mit viel Ausdauer recherchiert hatten. Dazu kamen Zehntklässler der Martin-Niemöller-Schule (MNS), die sich mit Unterstützung ihrer ehemaligen Lehrerin Else Trumpold mit dem Konzept der Stolpersteine beschäftigt und die Geschichte der Wolfskehler Synagoge in Erfahrung gebracht hatten. Drei von ihnen erinnerten vor dem Gebäude in der Sackgasse daran, wie während des Novemberpogroms 1938 Türen und Fenster der Synagoge eingeschlagen, die Inneneinrichtung zertrümmert und Torarollen verbrannt wurden.

Stolpersteine wurden hier gleichwohl nicht verlegt. Die kubischen Steine des Kölner Künstlers Gunter Demnig werden vor dem letzten frei gewählten Wohnsitz von Opfern der Nazidiktatur in den Gehweg eingelassen. Stichtag ist der 30. Januar 1933 – zu dem Zeitpunkt wohnte jedoch niemand in der kleinen Wohnung über der Synagoge, erklärte Ullrich.

Aber in dem Haus Ernst-Ludwig-Straße 8. Während Gunter Demnig die Steine mit den Namen der Opfer verlegte, erinnerten Schüler der MNS an die jüdischen Familien Lachenbruch und Lichtenstein, die in dem Gebäude gewohnt und eine Metzgerei mit Viehhandel betrieben hatten. Bewegt erzählte der ehemalige Landrat Willi Blodt von seinem Klassenkameraden Kurt Lichtenstein. „Wir waren acht Jahre alt und über Nacht waren Lichtensteins plötzlich nicht mehr da.“ Mit seinem Bruder Herbert und den Eltern Lina und Moritz wurde Kurt im März 1942 in das Getto von Piaski in Polen deportiert. Moritz Lichtenstein wurde am 2. August 1942 im Konzentrationslager Majdanek ermordet, die Todesdaten der anderen Familienmitglieder sind nicht bekannt.

Berührend dann auch die Verlegung von Stolpersteinen in der Goddelauer Hospitalstraße: Dort erzählte die Amerikanerin Claudia Schellenberg vor dem Geburtshaus ihres Vaters Julius Schellenberg, wie dessen Vater Leopold ihn als Einundzwanzigjährigen überzeugt hatte, in die USA auszuwandern. Auch Schwester Irna flüchtete.

Doch Leopold und Klara Schellenberg, deren Lebensmittel- und Textilgeschäft in der Hospitalstraße 15 im Jahr 1933 boykottiert und verwüstet worden war, blieben: Klaras kranker Bruder Max Fuld, der bei der Familie lebte, hatte kein Visum für Kuba erhalten. Am 20. Oktober 1941 wurden Leopold und Klara Schellenberg nach Polen deportiert und ermordet. Max Fuld starb am 18. September 1942 in Theresienstadt.

Wenige Meter weiter verlegte Gunter Demnig die letzten Steine für diesen Tag: Dort hatte Adolph Schellenberg mit Ehefrau Ida und den Kindern Bruno und Änne gelebt und ein Eisenwarengeschäft gehabt. 1938 konnte die gesamte Familie in die USA flüchten. Renate Hefermehl las aus erst kürzlich entdeckten Briefen, die die Schellenbergs nach dem Krieg an ihre früheren Nachbarn geschickt hatten. Die Nachbarn waren Hefermehls Großeltern mütterlicherseits.

Walter Ullrich war auch von diesem Fund beeindruckt. „Die Briefe zeugen davon, wie gute Nachbarschaft auch über schwierigste Zeiten tragen kann.“

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Termin:

Die nächsten Stolpersteine sollen im November in Riedstadt verlegt werden. Wer in der Projektgruppe mitarbeiten oder eine Patenschaft für einen Stein übernehmen möchte, kann sich im Internet auf den Seiten des Fördervereins (www.fjgk.de) und www.erinnerung.org , oder direkt bei Walter Ullrich (Tel: 06147 8361) informieren.

Birgid
Author: Birgid

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