Auf dem Weg zur Gleichberechtigung

Thomas Nipperdey

Auf dem Weg zur Gleichberechtigung

Die deutsche Aufklärung hat mit Lessing und Dohm die To­leranz, die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden, die „Emanzipation“, die bürgerliche Gleichberechtigung und Anerkennung, und damit auch die Befreiung des einzelnen Juden aus der Bindung an ein jüdisches Kollektiv, auf die Tagesordnung gesetzt. Der Zustand der Juden galt als uner­träglich, für sie selbst wie für die Christen und das Gemein­wesen überhaupt. Das Mensch-Sein der Juden wurde vor ihr Jude-Sein gesetzt, ihre Sonderart als Produkt traditioneller Judenpolitik erklärt. Die Emanzipation sollte diese Sonder­art letzten Endes aufheben, die Juden in die bürgerliche Ge­sellschaft integrieren. Der Staat galt als der Protagonist und Hüter dieses Prozesses. Gegen die Aufnahme der Juden in die bürgerliche Gesellschaft und gegen die Auflösung ihrer eigenen abgeschlossenen Ordnung, die Aufhebung des jüdi­schen Mittelalters, mußten sich Widerstände der traditionel­len christlichen wie jüdischen Weit richten.
Die Französische Revolution hat die Juden mit einem Ge-setzgebungsakt auf einen Schlag rechtlich voll emanzipiert. Das wurde auf die linksrheinischen Gebiete, die napoleoni­schen Satellitenstaaten in West- und Norddeutschland und das Dalbergsche Frankfurt übertragen. Es gab nun in Deutschland zwei Modelle der Emanzipation. Einmal das französische, die sofortige Gewährung der Freiheit, die Emanzipation auf einen Schlag. Zum anderen und viel ver­breiteter die langsame, stückweise Emanzipation, die von der allmählichen Überwindung der Vorurteile der Nicht-Ju­den und vor allem der korrigierenden Erziehung der Juden begleitet werden sollte, deren Fortschritte sich an den Erzie­hungsfortschritten, der „Besserung“ der Juden messen sollte, ein Modell, das den aufklärerischen Vorstellungen von der Erziehungsfunktion des bürokratischen Staates sehr ent­sprach. Die Gleichzeitigkeit von Fürsorge und Abwehr ver­band sich unter der Vorstellung, dass eine schädliche Gruppe wie die gegenwärtigen Juden – nur langsam in eine nützli­che zu verwandeln sei, der plötzliche Sprung aus der Unter­-drückung in die Freiheit hingegen die Ordnung erschüttere.Emanzipation war dann Sache der Bürokraten, war etati-stisch; an eine integrierende Kraft der Gesellschaft glaubtendie Anhänger dieses Modells nicht. Im rheinbündischenDeutschland kam es im Zuge der Integration der neuen Staa-­ten auch zu neuen Judengesetzen, die die unendlich unter-­schiedlichen Rechtsordnungen vereinheitlichen sollten; derEmanzipation gegenüber blieben sie außerordentlich zu-­rückhaltend. Anders war es in Preußen. Schon die Städte-­ordnung von 1808 hatte den Juden das kommunale Bürger-­recht gewährt. Ein Edikt von 1812, von Hardenberg undHumboldt vorangetrieben, stellte – im Sinne der preußi­-schen Reform – die bürgerliche Gleichberechtigung der Ju-­den, dazu gehörte auch die Aufhebung der besonderen Ge-­richte, her, gewährte also Bürgerrecht, Freizügigkeit, Frei-heit der Berufswahl, der Eheschließung, des Grunderwerbs bei Annahme eines Familiennamens und Gebrauch der deutschen Sprache;
aber es blieb eine wichtige Ausnahme:
der Zugang zu staatlichen Ämtern, außer den Lehrämtern, zu denen Juden zugelassen wurden – das sollte später gere­gelt werden. Die bürgerliche Freiheit galt zunächst für die Wirtschaftsgesellschaft – freilich nur für das kleine preußi­sche Staatsgebiet von 1812 und also nur für eine kleine Zahl von Juden. […]
Die Restaurationszeit stellte die älteren Bestrebungen gleichsam still. Nach 1815 tritt jetzt erstmals eine Kritik an der Emanzipation an die Öffentlichkeit und wird zu einem Faktor im politischen und geistigen Prozeß. Traditionelle Antipathie gegen Juden und neue, die sich an bestimmte Tendenzen im radikalen, neuen demokratischen Nationalis­mus anschließt, Fremdenhass und Identitätsangst im „christ-lich-teutschen“ Kreis, bei den dort führenden Professoren Rühs und Fries und einem Teil der frühen Burschenschaft, sind dafür so charakteristisch wie judenfeindliche (Hepp, Hepp!) Krawalle von Bauern und kleinen Bürgern 1819, eine Art Revolte der alten gegen die neue Zeit, Kehrseite der sozialen Wandlungen in einer Krise und auch Ausdruck der Unzufriedenheit gegenüber den Regierungen.Diese Bewe­gungen belasteten den Fortgang der Emanzipation mit dem „Damoklesschwert“ des Volkszorns. In Preußen wurde das Edikt nicht auf die „neuen“ Provinzen ausgedehnt; in der hierfür wichtigsten Provinz, Posen, galten noch Berufs-, Grunderwerbs- und Freizügigkeitsbeschränkungen, erst 1833 gab es dort überhaupt ein – nur individuelles – Natura­lisierungsverfahren. Der Ausschluß von Staatsämtern wurde durch die Verwaltung extensiv gehandhabt, auf Provinzial-Landtage und Kommunalämter ausgedehnt, bestehende Möglichkeiten in Schulen und Universitäten wurden aufge­hoben; die Trennung zwischen Juden und Christen, nicht‘ die Gleichberechtigung, stand im Vordergrund. Die büro­kratisch-liberale Gesellschaftspolitik freilich bot den Juden­bessere Möglichkeiten als im Süden. Immerhin: 1846 lebten noch 36,7% der Juden in Preußen ohne bürgerliche Rechte in einer Art Schutzbürgerschaft, zumal in Posen.

Der Versuch freilich, die Juden im Zuge der Politik des „Christli­chen Staates“ neu zu einer Korporation zu machen und da­mit de facto gegen die Gesellschaft abzuschließen, scheiterte vor 1848; auch zum Ausschluß vom Militärdienst kam es ge­gen einmütigen Protest der Juden nicht. Das preußische Ju­dengesetz von 1847 wurde zu einem konservativ-liberalen Kompromiss; es schloss die Juden von obrigkeitlichen Äm­tern aus, und für Posen gab es weiter viele Ausnahmen.
Im Süden stagnierte die Emanzipation lange Zeit, weil die Beamten sie an die Erziehungsfortschritte, die „Besserung“ der Juden banden, Gesetze und Verwaltungspraxis auf „Korrektur“ der Juden zielten und zudem allgemein die konservative Sozial-Politik, die Gesellschaft nicht oder nur eingeschränkt freizusetzen, dominierte. Bürgerliche Rechte waren von der Ausübung eines bürgerlichen Berufes abhän­gig, aber kommunale und staatliche Rechte wurden den Ju­den nicht gewährt. In Baden verlangte auch der Landtag die Aufgabe einer Reihe von religiösen Bräuchen, der „Nationa­lität“, wie man sagte, als Voraussetzung wirklicher Staats­bürgerschaft.

Auch die Liberalen hingen eher dem Erzie­hungsmodell an, dazu kamen Angst vor dem Volkszorn, aufklärerischer AntiJudaismus gegen das Versteinerte und Fanatische, das Antisoziale und borniert Nationale der Ju­den, kam die typisch frühliberale Forderung nach voller Eingliederung der Juden wie jeder anderen Gruppe in die deutsch-liberale Gesellschaft.

In Preußen war es eher die Idee des christlichen Staates, im Süden und außerpreußischen Norden waren es die Wirt­schafts- und Sicherheitsinteressen des agrarisch-handwerkli­chen Volkes, die der Emanzipation im Wege standen. In Hannover, Sachsen oder Mecklenburg herrschten noch ganz altertümliche Beschränkungen; Eheschließung und Freizü­gigkeit waren z. B. in Bayern, Österreich oder Frankfurt stark eingeschränkt; in Prag bestand noch das Ghetto; das Ortsbürgerrecht gab es gerade im liberalen Baden nicht, nur in Kurhessen war die Emanzipation weiter fortgeschritten.
Trotz solcher Hemmnisse und Rückschritte und aller Un­terschiede haben sich doch im ganzen die rechtlichen Bedin­gungen für eine wachsende Zahl von Juden – Wegfall von Erwerbsbeschränkungen, Zulassung zu Schulen, Heimat­rechte – verbessert. Die Emanzipation war gehemmt, aber sie kam auch weiter, in den 40er Jahren traten dann auch die Liberalen, die Mehrheit des gebildeten und besitzenden Bür­gertums und ein guter Teil des Adels deutlicher für eine un­eingeschränkte, eine volle Emanzipation ein. Erst 1848 aber setzt sich mit der allgemeinen Freisetzung und dem Ende diskriminierender Unterscheidungen, mit Bürgerfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz auch die Judenemanzipation als bürgerliche Gleichberechtigung prinzipiell durch; in der Paulskirche wie den Landtagen der Revolutionszeit ist sie fast unbestritten. Gewiß, auch 1848 gibt es im Südwesten auf dem Lande, in Hamburg, im Osten und Südosten (Prag) antijüdische Exzesse, stark von der bäuerlich-kleingewerbli­chen sozialen Unruhe geprägt; es sind vormoderne Bewe­gungen traditionellen, mittelalterlichen Typs. Aber für die politische, die bürgerliche Welt war dergleichen ein Relikt. Die Reaktion versuchte zwar durch Rücknahmen und Ver­waltungseinschränkungen noch einmal eine Revision – die Abnahme des Eides z. B., damit aber das Richteramt, wurde auf Christen beschränkt -, aber den Grundsatz der Emanzi­pation konnte sie nicht mehr tilgen. Jetzt ist die Liberalisie­rung im Vormarsch. Seit der Neuen Ära ist sie auch von den Regierungen nicht mehr bestritten, und man setzt das Prin­zip, Freiheit zu gewähren, vor alle Rücksicht auf Erzie­hungsmaßnahmen und -erfolge wie auf Volksstimmungen. 1861/1864 ist in Württemberg, 1861 in Bayern, 1862 in Ba­den, 1867 in Österreich, 1869 im Norddeutschen Bund die rechtliche Gleichstellung der Juden abgeschlossen. […]

Wie haben sich unter diesen Umständen die Juden in Deutschland und wie hat sich das Verhältnis zwischen Deut­schen und Juden entwickelt? Man kann das mit den Begrif­fen Verbürgerlichung und Assimilation beschreiben.

1820 gibt es im späteren Reich 270000 Juden, davon über die Hälfte in Preußen, von diesen 40% in Posen und weitere 20%in Westpreußen und Oberschlesien, in den Bundesge­bieten Österreichs (Prag und Böhmen zumal) 85000. 1850 sind es 400000 und 130000, 1871 (1869) 512000 und knapp 200000. Das sind nun 1,25% der Bevölkerung im Deutschen Reich und 1,5% der Bevölkerung der österreichischen Bun­desgebiete. Die süd- und westdeutschen Juden nehmen bis nach der Jahrhundertmitte stark an der Amerika-Auswande­rung teil. Erst nach der Jahrhundertmitte setzt die Verstädte­rung, der enorme Zug vor allem in die Großstadt ein (Berlin 1837: 5645, 1866: 36000; Köln 615 bis 3172; Frankfurt 3300 bis 7600; Wien 2873 und [1869] 40230). 1880 waren in den alten Judenstädten Posen, Fürth und Frankfurt über 10% der Einwohner Juden, in Wien (1869) 6,1%, in Prag (1857) 10,7%, in Beuthen, Mannheim, Breslau und Mainz (1880) über 5%, in Berlin 4,8%, in München, Dresden oder Han­nover entstanden überhaupt erst Judengemeinden.

Sozial gesehen können wir um 1815 drei Typen ausma­chen, vor allem 1. ländliche Juden, die vom Hausier- und Not-, vom Geld- und Viehhandel leben, im Südwesten und Süden; im Osten denselben Typus, dazu aber 2. ländliches und städtisches Klein- und Hausgewerbe; und schließlich 3. die eigentlichen Stadtjuden: Händler und Geldleute, auch sie zunächst meist arm. Die Zahl der reichen und gebildeten, der „bürgerlichen“ Juden, die sich um die fürstlichen Geld­männer, die Bankiers wie die Rothschilds bildeten, war ganz * gering. Das erstaunliche Phänomen unserer Jahrzehnte nun ist die Entpauperisierung, die Verbürgerlichung und der re­lativ starke Aufstieg in die wirtschaftlichen und geistigen Ober- oder oberen Mittelschichten, zumal seit den 40er Jah­ren. Die Großstädte waren bei dieser Entwicklung begün­stigt, Landbezirke und der Osten hinkten nach. Dieser Auf­stiegsprozeß ist phänomenal und unterscheidet sich durch­aus von der generellen Überwindung des Pauperismus. Den Grund wird man wohl in der jahrhundertelang eingeübten Wirtschaftsmoral und -praxis – Leistungszwang, Anpassung und Innovationsfähigkeit, nicht-zünftlerische, kapitalistische Wirtschaftsweisen – sehen, dazu vielleicht in der jüdischen Familienstruktur, die es ermöglichte, auch viele winzige Kapitalmengen dem einzelnen Aufsteiger zur Verfügung zu stellen. Die innere Sozialstruktur der verbürgerlichten Juden war anders als die der Nicht-Juden, der Sektor des Handels und des Geldgeschäftes blieb dominierend (über 50% der Beschäftigten 1870). In der Industrie spielen Juden, zumal in der entstehenden Konfektionsindustrie, dann überhaupt in der Textilindustrie, dazu der Nahrungs- und Druckindustrie eine große Rolle. Mit diesem bürgerlichen Aufstieg hängt dann der Eintritt in die Bildung zusammen. Der Anteil der jüdischen Gymnasiasten in Preußen stieg seit 1852 von 5,9% auf 8,4% (1866), während ihr Anteil an der Bevölkerung höchstens bei 1,34% lag, und bei den Studenten war der An­teil noch höher, in Wien und Prag waren 1872/73 11,6% der Studenten jüdisch. Der Einstieg in die Bildungsberufe war lange Zeit durch die Gesetzgebung behindert, kaum für Me­diziner – seit dem späten 18. Jahrhundert wurden Juden zum Medizinstudium zugelassen – wohl aber für Juristen und Lehrberufe. Jüdische Privatdozenten (ohne Gehalt) gab es seit 1814, später in den 50er und 60er Jahren auch außeror­dentliche Professoren; ordentliche Professoren waren – von getauften Juden abgesehen – noch Ausnahmen (zuerst 1858). Dieser Prozeß der Verbürgerlichung nun ist begleitet von dem der Eindeutschung, dem Eintritt in die deutsche Kul­tur, ihrer Übernahme. Urn 1800 war die Zahl der Juden, die Aufklärung, Bildung, kulturelle Geselligkeit der Nicht­Juden begehrten, noch gering – so sehr diese Gruppe freilich Protagonist und Pionier der weiteren Entwicklung war. Die Mauern des Ghettos fielen, die Macht der Tradition schwand. Schule und Gesellschaft zogen die Juden in eine moderne Welt. Auch für die abnehmende Zahl der tradi­tionsgebundenen Juden läßt sich dieser kulturelle Anschluß an das Deutschtum nachweisen. In Posen nehmen die Juden
1848 für die Deutschen und gegen die Polen Partei. Für die Masse des oberen und mittleren Bürgertums wurde die Assi­milation zum Ziel. Das hieß nicht die Taufe. Sie war nicht das „Entreebillet“ (Heine) für die europäische Kultur, son­dern allenfalls zu Staatsämtern und Professuren; der Anteil der Getauften beträgt in Preußen 1848 nur 1,5%, vor 1840 war er ganz gering. Worum es ging, das war der national und liberal gesinnte Bürger mosaischer Konfession, der be­wußte „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Gabriel Riesser, einer der Männer der Paulskirche und einer der Wortführer der jüdischen Emanzipation, ist mit seinem em­phatischen Eintreten für die deutsche, die liberal-nationale Sache durchaus repräsentativ, so wie der Schriftsteller Bert­hold Auerbach oder der Journalist Julius Rodenberg. Zudem nahmen Juden jetzt, in steigendere Maße, auch aktiv an der deutschen Kultur teil.

Dabei richtet sich diese Assimilation auf die mittelständi­schen Normen und Verhaltensweisen. Diese Art von Assi­milation bedeutete freilich einen Bruch mit der jüdischen Tradition; denn das Judentum war, historisch bedingt, mehr als eine Religion oder gar „Konfession“, es war eine abge­schlossene Lebens- und Sozialform; die Trennung von Welt­lichem und Geistlichem (Religiösem) war ein Ergebnis der christlichen Tradition. Für das Judentum bedeutete das ein Stück Säkularisierung, war das Auseinandertreten von Volks- und Glaubensgemeinschaft eine Krise. Für viele Ju­den jedoch war die Assimilation Befreiung aus dem sozial­kulturellen Ghetto. Die Probleme eines solchen Bruches be­antwortete für die Mehrheit der bürgerlichen Juden das so­genannte Reformjudentum, der Versuch einer Erneuerung auf der Basis „reiner“, kantisch interpretierter Religion, der Trennung von überkommenen Sozial- und Lebensformen, der Verabschiedung des jüdischen Mittelalters, der eigen­tümlichen „Nationalität“ der Juden. Die damals entstehende „Wissenschaft des Judentums“, die Historisierung und Ver­wissenschaftlichung der Tradition war die Kehrseite dieses Bruches. Für die bürgerlichen Juden wurde ihr Glaube phi­losophisch-liberal ausgelegt, zu einer Sonderprovinz, einer Konfession innerhalb einer übergreifenden nationalen und bürgerlichen Kultur.

Von diesen Voraussetzungen bestimmt sich die politische Orientierung der Juden: im Vormärz in der Masse eher un­politisch-loyal, konservativ bis abwartend – Toury schätzt den Anteil der Liberalen unter den Juden auf nur ein Drit­tel -, nach 1848, besonders seit Ende der 50er Jahre liberal. Man spricht für die Zeit bis in die 70er Jahre von einer jü­disch-liberalen Weggemeinschaft; Gleichberechtigung und Überwindung des Ständestaates, dieses Programm der Libe­ralen erhob die jüdischen Gruppenforderungen ins Univer­sale; aber die assimilierten Juden waren nicht als Juden poli­tisch aktiv, sondern als Bürger und Deutsche. Unter den po­litisch aktiven deutschen Juden freilich war der Anteil der Linken, der Radikalen und dann der Sozialisten, immer er­heblich höher, von Heine bis zu Lassalle; vor 1848 waren ein Drittel radikal, 12% „sozialistisch“. Das hängt gewiß mit der rechtlich-sozialen Diskriminierung der Juden, mit dem Bruch dieser Aktiven mit der eigenen jüdischen Tradition und mit ihrem sozialen Status als freier Intelligenz zusam­men, von daher die Schärfe der Kritik und die utopische Ra­dikalität der Forderung totaler Emanzipation.

Die aufhaltsame, aber vordringende Emanzipation und Assimilation hat die Isolierung und Fremdheit zwischen Deutschen und Juden abgebaut – bis zu einem gewissen Grade. Um 1800 wachsen die gesellschaftlichen Beziehungen in der Bildungsschicht; die Berliner und Wiener Salons der Rahel Levin, Henriette Hertz, Fanny Arnstein sind be­rühmt, Stätten intensiver deutsch-jüdischer wie bürgerlich­adliger, militärisch-ziviler Kontakte im Milieu des Reform­beamtentums und auf der Basis der Gleichberechtigung. Man kann in der Ober- und Bildungsschicht schon vor den 40er Jahren, dann im Bürgertum überhaupt eine breite und sich verbreitende Zone gesellschaftlicher Kontakte – in Ver- einen zumal und in kommunalen Organisationen – feststel­len, in Groß- und Mittelstädten jedenfalls, den eigentlichen Plätzen der Assimilation. Darüber hinaus hat auch der ge­meinsame Militärdienst eine integrative Wirkung gehabt. Zugleich, in den ganz persönlichen Beziehungen vor allem, dauert die Distanz, das – gegenseitige – Gefühl der Anders­artigkeit fort. […]

Gemischte Ehen gar sind selten und führen noch oft zum Ausschluß aus der jüdischen Familie. […]
Die Nähe der Juden zur Modernität – von Großstadt und Kapitalismus und traditionskritischer Intelligenz – nährte in einer Gesellschaft, die sich mit der Modernität noch nicht wirklich eingerichtet hatte, distanzierende, negative, kriti­sche Gefühle und eine Überschätzung auffälliger, aber klei­ner Gruppen – und darin lebten die alten Stimmungen wei­ter. Dass die Negativhelden in bürgerlichen Romanen, in ,Soll und Haben‘ oder im ,Hungerpastor‘, Juden sind, ob­wohl weder Raabe noch der überzeugte (und pro-emanzipa-torische) Liberale Freytag Judenfeinde (oder Antisemiten) waren, ist kein Zufall. Dennoch: die Hauptlinie ist das nicht. Die Hauptlinie ist die Durchsetzung der Gleichberechti­gung, der Gemeinsamkeit. Die antijüdischen Begleiterschei­nungen der Frühjahrsunruhen von 1848, in denen sich wirt­schaftlich-sozialer Protest mit Fremdenhaß und Religion mischte, galten als altmodisch, überholt, unschön – sie soll­ten die Annäherung zwischen Deutschen und Juden nicht stören. Die »Gartenlaube‘, das Massenblatt der Mittelklas­sen, und ihre Starautorin Marlitt schrieben im Geist liberaler Emanzipation, der Zugehörigkeit der Juden zur deutschen Kultur und Gesellschaft. Am Ende der 60er Jahre schien das Hineinwachsen der Juden in die deutsche Gesellschaft und Kultur – trotz ganz selbstverständlicher Spannungen – auf gutem Wege, so sah es auch die große Mehrheit der bürgerli­chen Welt wie der Juden selbst..

Birgid
Author: Birgid

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