Auswanderung und jüdisches Selbstverständnis

Juliane Wetzet

Auswanderung und jüdisches Selbstverständnis

Liegt das Heil in Palästina? Zionistische Propaganda gegen das Beharrungsvermögen der Assimilierten

In der Frage der Auswanderung schieden sich die Geister in­nerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Trotz Verfolgung und antisemitischer Ausschreitungen plädierten etwa die Mitglie­der des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten für den Ver­bleib in Deutschland, während andere ihre Aufgabe darin sahen, eine möglichst rasche Auswanderung ihrer Glaubens­genossen zu erreichen. Letztere, die zionistischen Organisa­tionen, wurden von den Nationalsozialisten unterstützt, weil der Wille zur Auswanderung ihren – damaligen – eige­nen Zielen sehr entgegenkam.

Die Zionisten nutzten das Entgegenkommen der NS-Re-gierung und waren bereit, die Emigration der Juden aus Deutschland zu fördern in der Hoffnung, damit die jüdi­schen Siedlungen in Palästina durch den deutschen Zustrom zu stärken. Das Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, die Jüdische Rundschau, betrieb Werbung für diese Idee:

„Die Auswanderung der Juden aus Deutschland, die im Jahre 1933 eingesetzt hatte, steht unter dem besonderen Zei­chen, dass Palästina das wichtigste Land“ für die Seßhaftmachung der Emigranten geworden ist. Durch eine Verknüp­fung historischer Umstände und durch die jahrzehntelange Vorarbeit des Zionismus ist Palästina zu einem Land gewor­den, das erhebliche Menschenmengen aufnehmen und ihnen Heimat und Arbeitsstätte sein kann. Es hat sich gezeigt, wel­che Bedeutung der Einsatz nationalen Kapitals in Palästina besitzt und wie sehr dadurch die Entwicklung der Wirt­schaft des Landes und seine Aufnahmefähigkeit für neue Einwanderer gesteigert werden kann.“

Eine wichtige Komponente war also in den Augen der Zionisten die Stärkung Palästinas durch deutsch-jüdisches, Kapital. Im Laufe der Jahre sollte sich allerdings zeigen, daß durch die NS-Restriktionen Geld von Emigranten nur noch in begrenztem Maße zur Verfügung stand. Deshalb bemühte sich die zionistische Organisation in erster Linie um die Menschen, die durch ihre Ausbildung für den Aufbau der neuen Heimat in Palästina geeignet erschienen.

Die berufliche Struktur des deutschen Judentums aller­dings versprach in diesem Sinne keine großen Erfolge. Es blieb nur die Möglichkeit einer Umschulung auf landwirt­schaftliche und handwerkliche Berufe. Und so traten denn die zionistischen Kreise keineswegs für eine überstürzte Massenauswanderung ein. Die Forderung, jene „Umschich­tung“ in Deutschland zu vollziehen und erst danach das Land zu verlassen, macht deutlich, dass auch die Zionisten die bevorstehenden Gefahren nicht erkannten.

Der Zionismus half seinen Anhängern bei der sozialen und kulturellen Ablösung von ihrer bisherigen Heimat und gab ihnen eine neue Identität: die Hoffnung auf eine neue, eine jüdische Heimat in Palästina. Nicht wenige im deut­schen Sinne national denkende Juden gaben ihre Überzeu­gung auf und schlössen sich den zionistischen Gruppen an. Der 1919 in Kippenheim/Baden geborene und heute in Is­rael lebende Erich Valfer beschreibt seine innere Verwand­lung als Weg von einem Deutschen jüdischen Glaubens zu einem überzeugten Zionisten.

Dieser „Übertritt“ war allerdings bei den meisten primär von der Hoffnung auf eine Erleichterung bei der Auswande­rung getragen. Nach 1933 bedeutete zionistisches Bewußt­sein nicht unbedingt eine politische Überzeugung. Es gab je­doch auch Menschen, die geradezu zum Zionismus konver­tierten. Wie eine solche Verwandlung vor sich ging, schildert der ehemalige Gemeindevorsteher von Deutsch-Krone in Westpreußen, der 1934 nach Palästina ausgewanderte Edwin Landau, nach dem „Judenboykott“ am 1. April 1933:

„Das war mein Abschied vom Deutschtum, meine innere Trennung vom gewesenen Vaterland – ein Begräbnis. Ich begrub 43 Jahre meines Lebens. Und wäre es nur der eine und einzige Tag solchen Erlebens gewesen, jetzt konnte ich kein Deutscher mehr sein. Und was war ich nun? Zwar war ich ein religiöser Jude, aber doch schon sehr assimiliert… Ich ahnte, dass nun der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens erledigt war, weil wir eine Rasse bilden und keine Glaubensgemeinschaft… Ich sah wie viele Cent-ralvereinler zur neuen zionistischen Ortsgruppe übergin­gen … So wurde ich nach Jahren Zionist… Für mich selbst aber wurde es ein innerer Aufstieg. Ich wurde ruhiger und fand den Kontakt mit dem neuen Leben wieder.“

Obgleich für die Zionisten eigentlich nur ein Auswande­rungsziel in Frage kam, sahen sie doch die Notwendigkeit, alternative Möglichkeiten zu schaffen. Den nicht-zionisti­schen Kreisen, die in erster Linie um solche anderen Aus­wanderungsländer bemüht waren, gestand die zionistische Organisation allerdings nicht zu, dafür jüdische Gelder zu verwenden: „… Das Land und die Aufgabe sind da. Dies müssen wir gerade dann feststellen, wenn wir hören, daß in diesen Tagen Projekte realisiert werden, die in gewissen jü­dischen Kreisen Deutschlands schon längere Zeit erörtert wurden und das Ziel haben, junge Menschen für eine land­wirtschaftliche Siedlung außerhalb Palästinas auszubilden. Gewiss kann eine solche Ausbildung nützlich sein, aber wir fragen: Was soll ein solches Kollektiv-Unternehmen, das mit den Mitteln der Gesamtheit durchgeführt wird, wenn ihm das konkrete Ziel fehlt?

Dieser Streit um die Errichtung des Auswandererlehrgutes Groß-Breesen, des einzigen nichtzionistischen Schulungs­zentrums für Landwirtschaft und Gärtnerei, wurde in erster Linie in den beiden Organen der Kontrahenten, der Jüdi­schen Rundschau und der „C.-V.-Zeitung“, ausgetragen. Die „C.-V.-Zeitung“ nimmt in ihrer Ausgabe vom 23. Januar 1936 Stellung zu der Kritik der Zionisten:

„Am 16. Januar fand in den Räumen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland die Gründungsversammlung der jüdischen Auswanderungsschule statt. Die Jüdische Aus­wanderungsschule setzt sich die Vorbereitung junger jüdi­scher Menschen für die Auswanderung nach Übersee zur Aufgabe… (Ein) Plan, der schon bei seiner Entstehung den Widerstand gewisser jüdischer Kreise erregte… Es hat auch in zionistischen Kreisen außerordentlich befremdet, dass die Jüdische Rundschau die Indiskretionen ihres ersten Angrif­fes gegen die jüdische Auswanderungsschule nicht etwa be­dauert und zurückgenommen, sondern fortgesetzt hat… Die Angriffe sind nur berechtigt, wenn man das Judentum als einen Annex des Zionismus und nicht etwa den Zionis­mus als einen engeren Sonderfall jüdischer Gesinnung an­sieht… Die Polemik der Jüdischen Rundschau ist aber auch geeignet, in den Kreisen der nichtzionistischen Palästi­nafreunde lebhafte Zweifel an der Aufrichtigkeit der Argu­mente zu wecken, mit denen sie für Palästina geworben wer­den. Schon lange vor 1933 gab es einen beträchtlichen Men­schenkreis, der innerjüdisch nichtzionistisch orientiert, den Palästinaaufbau als ein gesamtjüdisches Werk freudig unter­stützte.“

Die Unterstützung des Palästinaaufbaus gerade auch von nichtzionistischer Seite verdeutlicht ein Aufruf des Stuttgar­ter Ministerialrats Dr. Otto Hirsch von September 1933 (Hirsch wurde kurze Zeit später Geschäftsführer der Reichsvertretung): „Es gilt, Palästinas heiligen Boden durch deutsche Juden und für deutsche Juden zu erschließen… Das Entscheidende kann nur durch uns selbst geschehen!“

So verhinderten also die sehr unterschiedlichen Vorstel­lungen innerhalb der jüdischen Bevölkerung ein gemeinsa­mes Handeln gegenüber dem NS-Staat. Die assimilierten Kreise, wie der Verband nationaldeutscher Juden, der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten und der Central-Ver­ein, erkannten die Gefahren ihrer Aufforderung, in Deutschland zu bleiben und von innen heraus der NS-Politik zu widerstehen, viel zu spät. Der „geistige Widerstand“, wie ihn der von Martin Buber beeinflußte Zionist und Päd­agoge Ernst Simon nannte, mündete in der berühmten Auf­forderung des Redakteurs der Jüdischen Rundschau, Dr. Robert Weltsch: „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck.“ Nach Ende des Krieges machte sich der 1938 nach Palästina ausgewanderte Weltsch, wie viele andere, den Vorwurf, die Gefahren nicht rechtzeitig erkannt und die Auswanderung nicht mit Nachdruck propagiert zu haben.

Statt einer organisierten Auswanderung stand etwa bei den Mitgliedern des Centralvereins der Geist des „Ja-Sa-gens“ zum Judentum im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Die Assi-milanten beriefen sich auf ihr „Heimatrecht“. Der Gedanke an eine Auswanderung wurde in der ersten Phase der NS-Judenpolitik noch von vielen Gruppen eindeutig negiert. Charakteristisch hierfür ist die Ansicht des Reichsbundes jü­discher Frontsoldaten:

„Der RJF sieht die Grundlage seiner Arbeit in einem rest­losen Bekenntnis zur deutschen Heimat. Er hat kein Ziel und kein Streben außerhalb dieser deutschen Heimat und wendet sich aufs schärfste gegen jede Bestrebung, die uns deutsche Juden zu dieser deutschen Heimat in eine Fremd­stellung bringen will.“

Ein Schreiben von Dr. Leo Löwenstein, Gründer und weltanschaulicher Leiter des Reichsbundes, an Hitler zeigt, dass die Vorschläge des Bundes immer wieder die Bitte mit-einschlossen, die alteingesessenen jüdischen deutschen Fami­lien besonders zu berücksichtigen. Dabei wird deutlich, dass man in der Illusion lebte, nur den „zugewanderten“ Juden würde eine schlechte Behandlung widerfahren. Viele glaub­ten, die NS-Verfolgung sei nur auf die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eingewanderten Ostjuden zurückzuführen.

Die „Nürnberger Gesetze“ machten dann den Juden den bitteren Ernst der Lage klar: Ein jüdisches Leben in Deutschland hatte keine Zukunft mehr. Bis dahin war für die assimilierten Kreise die Auswanderung „eine“ Lösung,

für die Zionisten „die“ Lösung. Nun blieb nur noch „die“ Lösung. –

Die Reichsvertretung konzipierte denn auch ihr Pro­gramm neu. An erster Stelle stand immer noch die jüdische Erziehung. Zur zweiten Aufgabe wurde die Förderung der Emigration erklärt:

„Dem gesteigerten Auswanderungsbedürfnis ist mit einer großzügigen Planung zu entsprechen, die vor allem Palästi­na, aber auch alle anderen in Frage kommenden Länder ein­bezieht und besonders der Jugend gilt. Hierzu gehört die Sorge für die Vermehrung der Auswanderungsmöglichkei­ten, Ausbildung in für die Auswanderung geeigneten Beru­fen, insbesondere Landwirtschaft und Handwerk, die Schaf­fung von Möglichkeiten zur Mobilisierung und Liquidie­rung des Vermögens wirtschaftlich Selbständiger, die Erwei­terung bestehender und die Schaffung neuer Transfermög­lichkeiten.“

Auch der Centralverein sah die Situation jetzt mit anderen Augen: „Unsere Beziehungen zu der deutschen Umwelt ha­ben sich geändert… Die neuen Realitäten haben unsere Ge­danken, Gefühle und unser Verhalten verändert.“

Nachdem sich nun die Überzeugung allgemein durchge­setzt hatte, dass nur die Auswanderung eine wirkliche Lö­sung bringen konnte, galt es laut Robert Weltsch für die Ju­den in Deutschland,

„in einer präzedenzlosen Lage und gesetzlichen Unsicher­heit eine Möglichkeit zu suchen, innerhalb des engen Rau­mes, in den sie verbannt waren, ein Maximum an nützlichen Einrichtungen zu schaffen, um den besonders hart betroffe­nen Menschen zu helfen und einen – möglichst geordneten -Übergang zu einer anderen Existenz, für die immer deutli­cher nur die Auswanderung eine Möglichkeit eröffnete, vor­zubereiten. Das war das einzige, was in Deutschland damals noch getan werden konnte.“

Birgid
Author: Birgid

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